Die UN-Konvention wird von den Mitgliedern der heutigen Genozidforschung auf Grund ihrer Lückenhaftigkeit und Widersprüchlichkeit, was die Definition der Opfergruppen anbelangt, stark kritisiert. Zum einen würden beispielsweise politisch Verfolgte(56) nicht als Genozidopfer berücksichtigt. Zum anderen sei seit ihrer Annahme keine Gruppe, die Opfer genozidaler Verfolgung waren, als solche anerkannt worden. Eine klare Definition des Genozidbegriffs ist unter den Fachleuten umstritten. Die unterschiedlichen, nur minimal divergierenden Standpunkte zusammengefasst wird eine zielgerichtete Handlung, welches auf direktem oder indirektem Weg auf die totale oder partielle Zerstörung einer ethnischen, rassischen, religiösen oder politischen Gruppe hinausläuft, als Genozid bzw. Völkermord bezeichnet. Der Völkermord habe sich im Laufe der Geschichte vom Mittel zum Zweck kriegerischer Auseinandersetzungen entwickelt, welches nun ideologisch motiviert sei und auch oft für die Tätergruppe selbst dauerhafte Schäden bzw. hohe Verluste mit sich bringe.
Bezogen auf das Länderbeispiel Bosnien für die Jahre 1992 bis 1995 ist festzuhalten, dass es in allen drei ethnischen Konfliktparteien sowohl Opfer als auch Täter gegeben hat, die sich diverser Kriegsverbrechen schuldig machten. Allerdings wird davon ausgegangen, dass tendenziell serbische Nationalisten als Täter aktiver waren und primär die muslimische Bevölkerung zum Opfer der Verfolgungen wurden. Die ethnische Säuberung wurde systematisch betrieben. Sowohl physisch Mittels Vertreibung, Mord und Vergewaltigung, als auch symbolisch, indem beispielsweise Monumente und Einrichtungen, welche die multiethnische Koexistenz bezeugten, zerstört wurden. Ein Missstand wurde bereits relativ zu Beginn des Krieges seitens der KSZE aufgedeckt. In ihrem Bericht vom August 1992 wies die Untersuchungskommission daraufhin, dass nur ein Bruchteil der Inhaftierten in den Gefangenenlagern als Kriegsgefangene einzustufen sind. Die Mehrheit bestünde aus Zivilisten, die sich primär aus weiblichen Insassen und Kindern zusammensetze.
In den Medien wurde bezogen auf den Bosnienkrieg stets auch im Zusammenhang mit massenhaften Vergewaltigungsfällen und dutzenden Vergewaltigungslagern berichtet. Auch hier spiegelt sich das tendenzielle Täter-Opfer-Verhältnis wider. Als Täter traten erneut mehrheitlich serbische Männer und als Opfer muslimische Frauen in Erscheinung. Die Vergewaltigung von Frauen, als eine regelrechte und exzessiv betriebene Kriegsstrategie, stellte einen gezielten Angriff auf das Fundament der gegnerischen Gruppe dar, welches auf den familiären Beziehungen beruht. Wieviele Frauen von diesem Schicksal betroffen sind ist nicht genau feststellbar. Die Experten gehen davon aus, dass im Laufe dieses Krieges kaum eine weibliche Person nicht Opfer einer Vergewaltigung geworden ist.
Unter dem Aspekt der historischen Bedingungen wurde deutlich, dass die interethnischen Beziehungen in Bosnien eindeutig vorbelastet waren. Besonders die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges wurde zu einem Traumata im kollektivem Gedächtnis der einzelnen Nationalitäten der Balkanregion. Josip Broz Tito versäumte es durch seine Politik der Tabuisierung seinem Volk zu helfen die Vergangenheit aufzuarbeiten. Obwohl er sämtliches nationalistisches Aufbegehren diktatorisch unterdrückte, konnte er es nicht vollständig beseitigen und eine über die ethnischen, religiösen und historischen Barrieren hinweg gemeinsame jugoslawische Identität etablieren. In dem kommunistischen Vielvölkerstaat Jugoslawien, welches zumindest theoretisch in der Verfassung die Gleichstellung aller Nationen bzw. Nationalitäten garantierte, konnten die nationalistischen Akteure ihre Präsenz auf der regionalen Ebene bewahren und nach Titos Tot sich an die Regierungsspitze positionieren. Sozialstrukturelle Probleme und volkswirtschaftliche Fehlinvestitionen hatten das Erstarken der nationalistischen Protagonisten innerhalb der Bevölkerung und die Verwandlung latenter Spannungen in manifeste interethnische Konflikte zur Folge. Die ausschlaggebenden Faktoren lassen sich wie folgt zusammenfassen: sozioökonomische Probleme, Nationalismus, der Zerfall der staatlichen Strukturen, Territorialisierung und Gewalteskalation. Die wirtschaftliche Abhängigkeit Bosniens von seinen Nachbarn Kroatien und Serbien bedingte die gravierende Inflation, die rasch ansteigende Arbeitslosigkeit, die Armut und die Lebensmittelknappheit im Land zu Beginn der 1990er Jahre. Dies führte zum Entstehen sozialer Ängste innerhalb einer Bevölkerung mit einem durchschnittlich niedrigem Bildungsniveau, welches einen perfekten Nährboden für nationalistische Propaganda bietete. Daher wurden im Rahmen der ersten freien Wahlen die nationalistischen Parteien gewählt, die jedoch unfähig waren zu kooperieren.(57) Hieraus resultierte der Zerfall der staatlichen Strukturen, wie dem Militär(58), der Verwaltung, die Wirtschaft, der Medien, etc., in ethnische Lager und die Partialisierung des Territoriums; was letztendlich die Untergrabung der staatlichen Souveränität bedeutete.
Ein meist unberücksichtigter Punkt, welches bislang nur in den Ausführungen von Marie-Janine Calić Eingang fand, ist, dass die mosaikartige Siedlungsstruktur Bosniens sich in Zusammenhang mit der Gewaltintensität befindet. Denn eine (ethno-) nationalistische Ideologie läuft auf die Errichtung eines eigenen territorial abgegrenzten Staates hinaus, welches gleichzeitig eine im Idealfall homogene Bevölkerungszusammensetzung impliziert.(59) Wenn dass nicht gegeben ist, muss es eben künstlich geschaffen werden und das geht nur durch Assimilation, Vertreibung oder Mord.(60)
Den Kern der sozialpsychologischen Bedingungen zur Erklärung der Ursachen bildet die Theorie des relativen Gruppenwertes von Donald Horowitz. Ethnopolitische Konflikte werden im Allgemeinen als Interessen- und Identitätskonflikte begriffen, deren Entstehungsbedingungen sich davon ableiten lassen, welche historischen Erfahrungen vorliegen, welchen Organisationsgrad die beteiligten Gruppen besitzen und in welchem nationalen bzw. internationalen Kontext der Fall eingebettet ist. Wegen der hohen Emotionalität und der Grausamkeit, die bei diesem Konflikttypus zum Tragen kommt, ist ihre Beilegung kaum oder nur schwer möglich. Den Ausgangspunkt der Überlegungen von Donald Horowitz bilden folgende Thesen: a) Ethnie und soziale Klasse stehen im Zusammenhang (ranked or unranked ethnic system), b) die ethnische Gruppe wird als erweiterte Verwandtschaft wahrgenommen und c) die Menschen besitzen einen inneren Drang sich mit anderen zu Vergleichen. Das Ziel sei die Erlangung einer positiven persönlichen und sozialen Identität, welches mit einer negativen Fremdwahrnehmung einhergeht und schließlich eine vertikale Kategorisierung ergibt. Dieser Vergleich führe zum Entstehen sozialen Wettbewerbs und um die politische Macht, welches bis hin zu Aggression und Feindschaft ausarten kann.
In Bezug auf die erste Ausgangsthese könnte man für unseren Länderbeispiel von einem unranked ethnic system ausgehen, weil (1) die drei großen ethnischen Gruppen Bosniens ebenfalls in allen Gesellschaftsbereichen vertreten waren(61); (2) der Gruppenstatus je nach dem Gesellschaftsbereich variierte(62), z.B. war die Politik eher serbisch und kroatisch dominiert; (3) war ebenfalls die Frage nach der politischen Partizipation das grundlegende Konfliktgegenstand und zwar über eine lange Zeit hindurch. Nach Horowitz differenziere sich das ranked system von dem unranked system dadurch, dass das Erstere durch eine schwache Form der Migration und das Zweite durch Eroberung zustande käme. Auch dieser Punkt trifft auf Bosnien zu, da es meist unter diverser Fremdherrschaften stand.(63) Beispiele zu diesen Ausführungen finden sich in der historischen Vergangenheit und es empfiehlt sich am besten die Darstellungen von Noel Malcolm durchzulesen.
Des weiteren weist Horowitz daraufhin, dass die Mobilisierung von ethnischen Gruppen von den folgenden Faktoren abhängig ist: dem Organisationsgrad der Gruppe, der Aussicht auf Belohnung, Sanktionsmechanismen und der Wahrnehmung eines Sicherheitsdilemmas.(64) Entscheidend sei, dass diese Situationswahrnehmung vom Kollektiv bestätigt werden müsse. An dieser Stelle treten Führungspersönlichkeiten als Katalysatoren und Sprecher auf, welche dann diese Welle der empfundenen Gefahr interpretieren, lenken und beeinflussen. Die nationalistischen Führungsidole im Bosnienkrieg bedienten sich dem Instrument der Feindbildkonstruktion und der Propaganda, deren Inhalte sowohl gleich als auch widersprüchlich sein konnten.
Zwischen den sämtlichen literarischen Quellen zu diesem Kriegsbeispiel unternahm ausschließlich Marie-Janine Calić die Bemühung, ein auf den Bosnienkrieg bezogenen Täterprofil zu erstellen.(65) Demnach habe aggressives Verhalten ihren Ursprung, gemäß der gängigen psychologischen und soziologischen Perspektive, in der jedem Menschen innewohnenden latenten Gewaltbereitschaft. Die Täter seien in zwei Lager zu unterscheiden. Zum einen gäbe es jene geringe Zahl, die freiwillig agieren und ideologisch motiviert sind. Zum anderen jene, die gezwungen oder durch die Gruppendynamik zu Taten getrieben werden. Wie bereits erwähnt kann ein Motiv aus der ideologischen Überzeugung abgeleitet werden. Meist seien es jedoch persönliche Beweggründe gewesen, wie z.B. Rache; das Bedürfnis Schutz in der Gruppe zu suchen, was wiederum bedeutet haben mag, dass man sich der geltenden Regeln des Kollektivs unterwarf oder auch die Aussicht auf soziale Aufstiegschancen. Entscheidend jedoch sei der Handlungsrahmen. In Kriegssituationen gelten andere Regeln als in einer friedlichen Gesellschaft und deshalb können Dinge bzw. Verhaltensformen, die zuvor verboten waren, jetzt auf einmal sogar erwünscht sein. Eine Veränderung des Handlungsrahmens wird begleitet von der Veränderung der sozialen Rollen, der an die gebundenen Erwartungen und der Möglichkeiten bzw. des Handlungsspielraums. Die natürliche psychologische Aggressionshemmung werde außer Kraft gesetzt, z.B. durch Propaganda, durch fehlende Sanktionsmechanismen und dem Verlust von einem geltenden Wertesystem. Diese einzelnen genannten Faktoren stehen in einer Wechselbeziehung zueinander. Das Entfallen der natürlichen Aggressionshemmung stellte die letzte Hürde für die Eskalation interethnischer Konflikte dar.
(56) Bsp.: die Verfolgung von kommunistischen Parteigängern in Syrien oder in der Türkei zur Zeiten des Kalten Krieges; weitere Beispiele: Tötung von körperlich und geistig behinderten bzw. beeinträchtigten Menschen, sowie Homosexuellen seitens des NS-Regimes im Zweiten Weltkrieg
(57) vgl. Bieber, 1999
(58) Entstehung von Privatarmeen bzw. Paramilizen
(59) In der Realität ist in keinem Nationalstaat die Bevölkerung zu 100 % homogen zusammengesetzt!
(60) vgl. Scherrer, 1997
(61) Auch wenn nicht gleich proportional!
(62) Es besteht keine Über- bzw. Unterordnung der ethnischen Gruppen wie im ranked ethnic system.
(63) vgl. 2.1 Bosnien unter ständiger Abhängigkeit
(64) Ob nun latent oder manifest spielt hier keine Rolle.
(65) Eine umfassende Ausführung mit Bezügen zum Zweiten Weltkrieg bietet Welzer (2007)