Die Brücke über die Drina

Die Brücke über die Drina
"Die Brücke über die Drina" - Coverbild des gleichnamigen Romans von Ivo Andric

1 Kriegsverbrechen und Genozid in Bosnien-Hercegovina

1.1 Was ist ein Genozid?
Raphael Lemkin (Bildquelle)



Der Begriff des Genozids beschreibt die äußerste Form von Menschenrechtsverletzungen, die man auch als Völkermord bezeichnet. In der menschlichen Vergangenheit kam es öfters zu derartigen Vergehen. Mehr als die Hälfte der für die heutige Zeit geschätzten Flüchtlingszahlen sei das Resultat genozidaler Verfolgungen (Chalk/ Jonassohn, 1998, S. 294).

Die erste Definition stammte von Raphael Lemkin (1900-1959), der diese Bezeichnung aus den griechischen Wörtern genos (Volk) und caedere (töten) ableitete und im Jahr 1943 in Umlauf brachte. Ebenfalls gilt er als einer der ersten Wissenschaftler, die sich mit dem Phänomen das Völkermordes auseinander setzte (s. Internetquelle: Raphael-Lemkin-Institut). Nach Lemkin lässt sich der Genozid als ein geplanter Akt der Vernichtung definieren, wodurch das Ziel verfolgt wird eine bestimmte nationale, religiöse oder ethnische Gruppe zu zerstören, indem ihr der Zugang zu essentiellen Überlebensgrundlagen verwehrt wird. Er gilt ebenso als Verfasser der Vorlage des am 9. Dezember 1948 von der UN-Vollversammlung anerkannten Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes(1) (Chalk/ Jonassohn, 1998, S. 295). In Artikel II der Konvention heißt es, dass ein Völkermord vorliege, wenn „eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe; b) Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe" (zit n. Chalk/ Jonassohn, 1998, S. 295).

Autoren aus dem sozialwissenschaftlichem Zweig der Forschung üben scharfe Kritik an der Definition, die seitens der UN angewendet wird. Beispielsweise Pieter N. Drost bemängelt an der UN-Konvention, dass nicht alle Gruppen, vor allem die politisch Verfolgten, in der Opferschematik eines Genozids berücksichtigt werden. Mitte der 1970er Jahre schlug der Soziologe Irving Louis Horowitz vor, Genozid als eine staatliche Politik zu begreifen, welche das Ziel verfolge, eine Konformität bzgl. der herrschenden Ideologie und die Durchsetzung eines vorherbestimmten Gesellschaftsmodells zu erzwingen. Dies bedeute in ihrer Praxis eine strukturelle und systematisch betriebene Vernichtung jener Personen bzw. Gruppen, die dem Konzept widersprechen oder per definitionem als Mitglieder der eigenen Gruppe ausgeschlossen wurden. Als die notwendige Voraussetzung eines Genozidprozesses nennt Horowitz das Zusammenwirken eines totalitären Staatsapparates mit einer entsprechenden nationalen Kultur (Chalk/ Jonassohn, 1998, S. 296).

Als eine weitere Persönlichkeit, der für die Genozidforschung im 20. Jahrhundert tragend gewesen ist, trat Leo Kupper mit seinen in den 1980ern veröffentlichten Arbeiten Genocide (1981) und The Prevention of Genocide (1985) in Erscheinung. Auch er äußert Kritik an der UN-Konvention und macht vor allem auf ihren mangelnden Durchsetzungsgrad bzw. ihre Lückenhaftigkeit aufmerksam. Er erkennt es jedoch als Basis einer künftig effektiveren Prävention an. In seinen Ausführungen hebt Kupper auch die Schwierigkeiten einer Genoziddefinition(2) deutlich hervor und schließt in sein Definitionsverständnis unter die Rubrik Verwandte Gräueltaten Opfer staatlich-organisierter, politisch-motivierter Massentötungen, wie sie beispielsweise in der stalinistischen Sowjetunion oder in Kambodscha geschehen sind, mit ein (Chalk/ Jonassohn, 1998, S. 297f.).

Frank Chalk und Kurt Jonassohn sehen in der UN-Konvention sogar eine Ambivalenz, auf die sie anhand der Tatsache aufmerksam wurden, dass seit der Annahme der Konvention keine der größeren Opfergruppen genozidaler Verfolgungen und Gewaltanwendungen unter die beschriebenen Bestimmungen gefallen sind. Der Widerspruch sei zu erkennen, wenn man die Definition von Flüchtlingen der UN-Konvention von 1951 zum Vergleich nimmt. Demnach sei „unter einem Flüchtling jede Person zu verstehen [...], >>die sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt ....<<“ (zit. n. Chalk/ Jonassohn, 1998, S. 300; Hervorh. im Orig.). Die Autoren fassen den Widerspruch wie folgt zusammen: „Menschen, die von einem Genozid fliehen, werden – [...] – als Flüchtlinge anerkannt, wohingegen diejenigen, die vor denselben Ereignissen nicht fliehen können, nicht als seine Opfer anerkannt werden“ (zit. n. Chalk/ Jonassohn, 1998, S. 300).

Darüber hinaus weisen sie in ihren Ausführungen auf den Unterschied zwischen den in der Antike und den in der Moderne begangenen Genoziden. Während ersteres aus ökonomischen, territorialen oder aus Gründen der Verteidigung vollzogen wurden und in der folgenden Herrschaftsperiode Frieden, wenn nicht sogar einen allgemeinen Wohlstand mit sich brachten, lagen dem Letzteren ideologische Motive zu Grunde mit denen auch für die Tätergesellschaft hohe soziale und ökonomische Kosten verbunden waren (Chalk/ Jonassohn, 1998, S. 305).



1.2 Kriegsverbrechen in Bosnien-Hercegovina



Die gravierenden Menschenrechtsverletzungen, die in Bosnien begangen wurden, zogen die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich. Besonders die Fälle von flächendeckender Vertreibung, die Missstände in den Gefangenenlagern und die massenhaften Vergewaltigungen von Frauen fanden hohen Anklang in den Medien.(3) Am 06. Oktober 1992 entsendete die UNO eine fünfköpfige Kommission, welche die Lage in der Krisenregion untersuchen sollte. In ihrem Abschlussbericht vom Mai 1994 sagten sie aus, 143 Massengräber und 715 Gefangenenlager gefunden zu haben. Andere Institutionen, wie die KSZE und diverse Menschenrechtsorganisationen führten eigene Untersuchungen durch. Somit Lagen dem Internationalen Strafgerichtshof zur Ahndung der Kriegsverbrechen in Den Haag(4) zur Mitte des Jahres 1994 Dokumente im Umfang von ca. 65.000 Seiten und ca. 300 Stunden Filmmaterial zur Verfügung (Calić, 1996, S. 118f.).


Mit dem Anfang der Kriegshandlungen brach eine Welle von Flüchtlingswanderungen aus. Laut den Angaben der UNHCR verließen bis Ende des Jahres 1992 mehr als zwei Millionen Menschen ihren angestammten Wohnort. Im Sommer 1993 sei ihre Zahl auf über vier Millionen gestiegen. Die Flüchtlinge lassen sich in drei Kategorien unterordnen. Zum einen waren es Kriegsdienstverweigerer, die einen Wohnortwechsel dem Einzug in die Bundesarmee bevorzugten. Die meisten gehörten jedoch zu den ethnisch-religiös bedingt Verfolgten und zu jenen, die sich vor den unmittelbaren Gefahren des Krieges, in Sicherheit bringen wollten (Calić, 1996, S. 119). Der Sonderberichterstatter der UNO-Menschenrechtskommission für Jugoslawien, Tadeusz Mazowiechi, wies daraufhin, dass die ethnische Säuberung nicht Folge, sondern als Kriegsziel betrieben worden ist. Denn es lag ein ethnobiologisches Nationsverständnis vor, welches sich auf eine gemeinsame Abstammung konzentrierte.(5) In diesem Sinne erfülle eine ethnische Säuberung den primären Zweck eine territoriale Oberhoheit zu etablieren und zu bewahren. Ziel sei es auch die Anzahl der Widersacher innerhalb der Gesellschaft zu reduzieren. (Calić, 1996, S. 121ff.) Zudem besäße, laut Calić (1996, S. 125), die Homogenisierungspolitik eine präventive Komponente, welche die Einschränkung der staatlichen Souveränität durch international kontrollierte Minderheitenrechte verhindere und den internationalen Einfluss reduziere.

Obwohl alle drei großen ethnischen Gruppen Bosniens zu Opfern, gleichzeitig zu Tätern von Kriegsverbrechen und ethnischen Säuberungen wurden, zeigte sich, dass die serbischen Nationalisten als Täter deutlich aktiver waren und die Muslime vordergründig als Opfer zu betrachten sind. Denn je größer der muslimische Bevölkerungsanteil einer Ortschaft war und je mehr irreguläre Verbände daran teilnahmen, desto größer war die angewandte Repression und Gewalt. In ethnisch gemischten Siedlungen wurde die ethnische Säuberung vergleichsweise weniger gewaltsam und stattdessen eher geordneter(6) durchgeführt. Insgesamt wurde im Bosnienkrieg der Jahre 1992-1995 die ethnische Säuberung systematisch betrieben (Calić, 1996, S. 125ff.).
 

Sie umfasste nicht nur die Vertreibung unerwünschter Personen mit allen möglichen Mitteln (z.B. Mord, Niederbrennen von Häusern), sondern auch die Vernichtung sämtlicher symbolischer und soziokultureller Manifestationen, die auf die Anwesenheit der unerwünschten Gruppen hinwiesen. Marie-Janine Calić spricht in diesem Zusammenhang von einem Ethnozid. Im November 1992 waren bereits 70% aller historischen Gebäude, Gotteshäuser, Bibliotheken, Archive und Friedhöfe zerstört worden. Mit der Zerstörung des Orientalischen Instituts oder der Internationalen Bibliothek Sarajevos gingen zahlreiche bedeutsame Schriften verloren, welche die gemeinsame Geschichte der Völker Bosniens bezeugten. In diesem Sinne wurden auch gezielt Symbole bzw. Orte des multiethnischen Zusammenlebens, wie z.B. die Brücke von Mostar(7) absichtlich vernichtet (Calić, 1996, S. 128ff.).

Trotz der Vereinbarung der Kriegsparteien das humanitäre Völkerrecht zu respektieren(8), kamen wiederholte Fälle von Menschenrechtsverletzungen zum Vorschein. In ihrem Bericht vom August 1992 protokollierte die KSZE, dass nur ein geringer Teil, der in Gefangenenlagern inhaftierten Personen als Kriegsgefangene zu zählen ist, während der überwiegende Rest aus weiblichen Zivilpersonen sämtlicher Altersklassen besteht. Außerdem hätte man die Zuständigkeit über die einzelnen Gefangenenlagern nicht immer klären können. (Calić, 1996, S. 130ff.)


1.3 Vergewaltigung als Kriegsstrategie

Über den Bosnienkrieg wurde besonders oft im Zusammenhang mit massenhaften Vergewaltigungsfällen berichtet, deren Zahl in die Tausende geschätzt werden. Allerdings existiert die Problematik der Überprüfbarkeit des ganzen Ausmaßes des Verbrechens.(9) Gründe hierfür wären zum einen, dass die Orte in denen man regelrechte Vergewaltigungslager vermutete für die Mitglieder von Untersuchungseinrichtungen unzugänglich waren. Zum anderen schwiegen die meisten Opfer aus Angst stigmatisiert zu werden. Es wird davon ausgegangen, dass Frauen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, in sämtlichen Altersklassen zu finden sind. In ihren unterschiedlichen Berichten stimmen die Untersuchungskommissionen darin überein, dass die primären Opfer muslimische Frauen darstellen, während zu den meisten Tätern serbische Männer zuzählen sind (Calić, 1996, S. 132ff.).

Die Vergewaltigung von Frauen ist eine systematisch eingesetzte Strategie, welche in Kriegssituationen(10) dazu dient, die gegnerische Gruppe einzuschüchtern, zu vertreiben und in ihren Grundfesten als Gruppe zu zerstören. Denn es ist unwahrscheinlich, dass die Opfer sexueller Gewalt jemals freiwillig an den Ort des Verbrechens zurückkehren. Die Erniedrigungen, die sie erleiden mussten, tragen die Frauen ihr ganzes Leben mit sich. Die familiären Beziehungen werden dauerhaft geschädigt, wenn nicht sogar zerrissen. Sexualisierte Gewalt ist nicht als bloßer Ausdruck von übermäßiger Triebhaftigkeit zu verstehen. Es drückt Aggressionen und Herrschaftswillen aus. Es ist ein Mittel der Eroberung, Rache und Demütigung. Außerdem ist es ein Teil männlicher Kommunikation, welche die Aussage beinhaltet, dass die männlichen Mitglieder der gegnerischen Gruppe in ihrer sozialen Rolle als Mann und Beschützer versagt haben. Die Erniedrigung der Opfer wird dadurch gesteigert, indem sie dazu gezwungen werden, die Kinder, welche als Resultat einer Vergewaltigung gezeugt wurden, zu gebären(11) (Calić, 1996, S. 135ff.).



Vergewaltigungen drohen immer dann, wenn während eines Krieges der Männlichkeitswahn in den Vordergrund tritt und die Zivilbevölkerung zum Objekt der Kampfhandlungen wird. […] Im Selbstverständnis von Nationen nehmen Frauen eine Schlüsselposition ein: als Schöpferinnen und Hüterinnen der Familie, der kleinsten Einheit einer nationalen Gemeinschaft, gelten sie als Hauptverantwortliche für die biologische und soziokulturelle Reproduktion.(12) (zit. n. Calić, 1996, S. 138)





(1) vgl. Watzal, 2004, S. 296ff. 
(2) vgl. Horowitz (1998) 
(3) Bekanntestes Beispiel sind die Ereignisse in Srebrenica 1995; vgl. Melčić, 2007
(4) im Mai 1993 begründet 
(5) vgl. Funke, 1999
(6) M.-J. Calić verwendet die Bezeichnung „quasi-administrativ“, welches passender erscheint. 
(7) Im Jahr 1566 gebaut und am 9. November 1993 seitens der kroatischen Truppen gesprengt
(8) 27. August 1992 Friedenskonferenz in London
(9) Uneinigkeit bzgl. Opferzahl: Laut kroat.-muslim. Regierung ca. 60.000, laut EG etwa 20.000 und laut UNO nur ca. 12.000 Frauen betroffen 
(10) Weitere Fälle sexualisierter Gewalt: Zweiter Weltkrieg, Vietnamkrieg, Ruanda, Sierre Leone (vgl. APuZ 46/2009 vom 9.11.2009)  
(11) s. Video: Bosnien: die Kinder der vergewaltigten Frauen (1/2)  
(12) Symbolische Beispiele: die amerikanische Freiheitsstatue, die französische Marianne